Interview
Prof. Dr. André Bleich leitet das Institut für Versuchstierkunde und das Zentrale Tierlaboratorium der Medizinischen Hochschule Hannover. Das Institut koordiniert die beiden Forschungsprojekte „Severity Assessment in Animal-Based Research“ und „R2N – Replace und Reduce aus Niedersachsen“. Bei den Projekten stehen die drei Grundsätze des 3R-Prinzips (Replace, Reduce und Refine) im Vordergrund.
Sie koordinieren Forschungsprojekte, die sich mit dem 3R-Prinzip befassen. Worauf zielt das Projekt Severity Assessment ab?
Bei Severity Assessment forschen wir zum Refinement. Es geht darum, Methoden zu erforschen, um die Belastung der Tiere bei Versuchen besser bewerten zu können. Durch die Projekte entstehen Kenngrößen, um Belastung möglichst objektiv zu messen und sich nicht allein auf Einschätzungen von Menschen verlassen zu müssen. Diese Kenngrößen nennt man auch evidenzbasierte Parameter.
Hat es so eine objektive Belastungseinschätzung denn vor Ihrer Forschung nicht gegeben?
Es wird gesetzlich gefordert, dass Forschende die Belastung der Tiere einstufen. Allerdings bestehen recht wenig Vorgaben, anhand welcher Kriterien das stattfinden soll. Häufig kommen dann Erfahrungswerte zum Einsatz. Aber es ist größtenteils unbekannt, inwiefern sich darin tatsächlich das Befinden der Tiere widerspiegelt. Diese Praxis ist bisher zumindest insofern unzureichend, dass es für viele Tiermodelle einfach widersprüchliche Ansichten gibt. Und das schafft natürlich eine rechtliche Unsicherheit auch für die Forschenden, wenn sie einen Tierversuch beantragen. Auch deshalb sind die Forschungsprojekte so wichtig.
Profitieren denn auch die Versuchstiere von Ihrer Forschung?
Natürlich. Das Refinement dient in erster Linie dem Tierwohl. Wenn ich als Forschender die Belastung in einem bestimmten Modell zu hoch beurteile, darf ich die Forschung nicht mehr durchführen. Wenn ich sie zu niedrig beurteile, geht das zulasten des Tieres. Deswegen brauchen wir möglichst objektive Parameter.
Können Sie schon etwas zu den Ergebnissen der Forschungsprojekte sagen?
Die Ergebnisse helfen dabei, die Belastung in Tierversuchen künftig besser messen zu können. Zunächst haben wir in sehr vielen verschiedenen Tiermodellen mehrere unterschiedliche Parameter getestet. Insgesamt 55. Nun wollen wir eine Severity Skala entwickeln. Also eine objektive Skala, mit der sich die spezifische Belastung verschiedener Tiermodelle einstufen lässt. Dafür gibt es die drei Belastungsgrade mild, moderat und schwer.
Um was für Parameter handelt es sich?
Man kann Schmerzen oder Leiden unter anderem im Gesicht erkennen, sowohl beim Menschen als auch bei den Versuchstieren. Das funktioniert je nach Tierart unterschiedlich gut. Ein Parameter ist zum Beispiel der sogenannte Grimace Scale. Hier geht es darum, das Maß an Schmerzen zu erkennen, das sich im Gesicht einer Maus ausdrückt. Oder auch Anzeichen für Belastungen, die objektiv messbar sind wie das Körpergewicht oder der Herzschlag, der sich in Stresssituationen verändert. Außerdem untersuchen wir Verhaltensparameter wie beispielsweise das Buddelverhalten oder den Nestbau.
Sehen Sie hier auch Parallelen zum Menschen und seinem Schmerzempfinden?
Ja, das kennen wir auch von uns selber. Zum Beispiel, ob Menschen ins Fitnessstudio gehen oder nicht. Das hängt auch davon ab, wie man sich fühlt. Tiere sind ebenfalls nur aktiv, wenn sie sich wohlfühlen. Im Prinzip sind das alles Parameter, die für Menschen und Tiere einsetzbar sind. Sie müssen aber auf jede Tierart angepasst werden.
Lassen Sie uns noch über ein anderes der drei R-Prinzipien sprechen. Beim Replacement geht es darum, Tierversuche durch alternative Methoden zu ersetzen. Die vegane Forschung stellt einen möglichen Weg dar. Kann sie einen Beitrag dazu leisten?
Auf jeden Fall. Vegan wären zum Beispiel induzierte pluripotente Stammzellen (Anm. der Red.: können sich noch zu verschiedenen Körperzellen entwickeln) vom Menschen, die ohne einen tierischen Zusatzstoff wie Kälberserum am Leben gehalten werden. Teilweise benötigen wir aber solche Zusatzstoffe, wie auch Zellen und Gewebe, die direkt aus Tieren stammen. Deshalb verwende ich statt vegan auch gerne den Begriff tierversuchsfrei. Denn ich sehe einen Unterschied zwischen einem Tierversuch und darin, dass Organe und Gewebe nach dem Tod entnommen werden. Ich finde, dass dieser Unterschied schon durch unser alltägliches Handeln begründet ist, zum Beispiel bei der Erzeugung von Nahrung oder Kleidung. Wenn Tiere der Forschung dienen, ist das aus meiner Sicht ethisch eher gerechtfertigt, als dass sie für Nahrung verwendet werden, oder um Schuhe herzustellen.
Inwiefern unterscheiden sich denn die Ersatzmöglichkeiten in verschiedenen Forschungsbereichen?
Hier gibt es tatsächlich Unterschiede. Für den Bereich der Toxikologie, bei der es darum geht, gesundheitsschädliche Auswirkungen bestimmter Stoffe zu testen, gibt es vorgeschriebene Tierversuche. Diese werden nach und nach ersetzt. Für die Grundlagenforschung benötige ich jedoch das richtige Modell. Und dieses Modell kann ein Tier sein, aber auch genauso gut eine Zellkultur, ein Chipsystem oder ein Organoid – je nachdem, was ich erforschen will. Durch einen Tierversuch wird man immer deutlich komplexere Fragen beantworten können als in einem Modell. Da den richtigen Weg zu finden, ist nicht ganz einfach.
Auch in der Corona-Forschung kommen Ersatzmethoden zum Einsatz. In welchen Bereichen ist das möglich?
Zum Beispiel in Rezeptorstudien, um herauszufinden, an welchen Rezeptoren das Coronavirus bindet. Dafür eignen sich Zellkulturen beziehungsweise sogenannte in-vitro-Studien. Oder bei der Generierung von Antikörpern, um zu sehen, ob bestimmte Antikörper schützen oder nicht. Auch das konnte vorgetestet werden in in-vitro-Systemen, bevor es dann letztendlich in bestimmten Phasen aber zumindest im Tier überprüft werden musste.
Weiß die Öffentlichkeit, dass es Ersatzmethoden zum Tierversuch gibt?
Das Thema Tierversuche wird in der allgemeinen Öffentlichkeit eher selten diskutiert. Dementsprechend kommen auch alternative Methoden kaum zur Sprache. Generell stelle ich fest, dass die Unterscheidung schwerfällt, wozu Tierversuche erforderlich sind und was wiederum diese alternativen Testsysteme eigentlich leisten können. Dieser Unterschied ist auch nicht ganz einfach, weder zu kommunizieren noch zu verstehen.
Wo sehen Sie noch Forschungsbedarf beim Thema Alternativmethoden?
Insbesondere bei den alternativen Testmethoden, die noch komplexer werden müssen. Zum Beispiel durch ein Immunsystem oder verschiedene Zelltypen. Denn viele der Dinge, die wir in der Biomedizin untersuchen, bedürfen dem Zusammenspiel verschiedener Organe, Gewebe und Zellsysteme. Modelle sind natürlich immer eine Vereinfachung der Realität. Aber wenn sie zu einfach werden, dann stimmen die Antworten aus Modellen einfach nicht mehr mit der Realität überein. Außerdem ist die Standardisierung von in-vitro-Systemen verbesserungswürdig, damit Forschende immer wieder die gleichen Ergebnisse gewinnen können.
Wie bewerten Sie die Forschungsergebnisse zum 3R-Prinzip, um Tierversuche zu verringern, zu verbessern und zu ersetzen? Sind die Bemühungen ausreichend?
In den vergangenen Jahren sind verschiedene Technologien entstanden, die der Forschung erheblich helfen können. Aber ich glaube, dass noch bedeutend mehr Energie und auch Geld in das Forschungsfeld fließen muss, auch von politischer Seite. Da reden wir allerdings nicht über eine Verdoppelung oder Verdreifachung des Forschungsbudgets, sondern über ganz andere Größenordnungen. Als Vergleich fällt mir die Mondmission der Amerikaner im Jahr 1969 ein. Sie wollten den Wettkampf gegen die Russen gewinnen und haben dementsprechend viel Geld zur Verfügung gestellt. Momentan fördert Europa zwar die Grundlagenforschung, es müsste aber sozusagen eine Mondmission werden, um weitere Alternativmethoden erforschen zu können.
Wie geht es Ihrer Meinung nach mit Tierversuchen weiter?
Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nur Vermutungen darüber anstellen, ob wir Tierversuche jemals vollständig ersetzen können. Ich denke in der Toxikologie und der Sicherheitsbewertung wird uns das irgendwann gelingen. In der Grundlagenforschung bin ich mir nicht so sicher, weil wir bestimmte Ergebnisse immer noch überprüfen müssen. Und dann stellt sich die Frage, wie wir Ergebnisse überprüfen. An Versuchstieren oder direkt am Menschen. Und meine Vermutung ist, dass das Sicherheitsbefinden der Menschen zukünftig eher zunimmt und wir insofern Tiere als Modellorganismen auch weiterhin benötigen.