Wie viel Tierversuch muss sein?

Kann die Forschung eines Tages ganz auf Tierversuche verzichten? Wir stellen zwei neue Verbünde vor, die Alternativen entwickeln oder zumindest die Belastungen für die Tiere minimieren wollen. Wir beschreiben die gesetzlichen Rahmenbedingungen und stellen medizinische Erfolgsgeschichten vor, die ohne Tierversuche nicht möglich gewesen wären.

Bei Tierversuchen gilt das „3R-Prinzip“: „Replace“ steht für Vermeiden von Tierversuchen durch Finden alternativer Methoden, „Reduce“ für Verringern der Zahl benötigter Tiere und „Refine“ für das Verbessern der Versuche – zum Beispiel, indem die Belastungen für die Tiere vermindert werden. Diesen Aspekten gehen Forscherinnen und Forscher nun in zwei neuen Forschungsverbünden intensiv nach: Im „R2N“ entwickeln Forscher Methoden, um Tierversuche ersetzen oder ergänzen zu können. Und im Verbund „Belastungseinschätzung in der tierexperimentellen Forschung“ minimieren sie Belastungen, denen Tiere in der biomedizinischen Forschung ausgesetzt sind.

Alternative zu Tierversuchen: In Zellkultur gewachsenes Darmgewebe.

„Unser Ziel ist es, die Zahl der Tiere in Versuchen auf das unerlässliche Maß zu beschränken“, sagt Professor André Bleich, PhD. Der Direktor des Instituts für Versuchstierkunde und des Zentralen Tierlaboratoriums leitet den vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur mit 4,5 Millionen Euro geförderten neuen Verbund „R2N – Replace und Reduce aus Niedersachsen – Ersatz und Ergänzungsmethoden für eine zukunftsweisende biomedizinische Forschung“. Darin haben sich niedersächsische Forscher zusammengeschlossen, um Tierversuche ersetzen oder ergänzen zu können. Beteiligt sind die MHH, die Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, die Universitätsmedizin Göttingen, die Leibniz Universität Hannover, das TWINCORE-Zentrum für Experimentelle und Klinische Infektionsforschung, das Fraunhofer-Institut für Toxikologie und experimentelle Medizin sowie das Deutsche Primatenzentrum. Die Forscher kümmern sich um die Themen Infektionsbiologie, Immunologie, regenerative Medizin, Transplantat- und Implantatforschung, Toxikologie sowie Sicherheitsbewertung und sie analysieren ethische und juristische Fragen.

Ziel: Weniger Tierversuche
Beispielsweise wollen sie Tierversuche, die bei Toxizitätstests gesetzlich vorgeschrieben sind, verringern. Derzeit wird die Giftigkeit einer Substanz zwar zunächst an Zellkulturen geprüft, muss aber anschließend an Tieren getestet werden, meist an Ratten. „Wir wollen schon bei 9?9 Prozent der Stoffe die Giftigkeit mithilfe eines neuen, zellbasierten Modells erkennen und so die Zahl der Versuchstiere deutlich reduzieren“, sagt REBIRTH-Forscher Professor Dr. Tobias Cantz aus der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie. Dazu entwickelt sein Team ein Leber-Stoffwechselmodell aus patienteneigenen Zellen – aus iPS-Zellen, also aus Körperzellen des Patienten entwickelten Stammzellen. Mit der CRISPR/Cas-Methode können darin einzelne Gene so verändert werden, dass Besonderheiten des Stoffwechsels bei der Verarbeitung von Medikamenten berücksichtigt werden können. Damit arbeitet Professor Cantz an der Entwicklung einer Mini-Leber mit, die gemeinsam mit anderen Organmodellen auf einem Mikroobjektträger die Verarbeitung von Giften im Körper so genau wie möglich abbilden soll. Zukünftig könnten solche human-spezifischen Toxizitätstests den Tierversuchen hinsichtlich Effizienz und Sicherheit überlegen sein.

Im Labor: Beim Entwickeln von tierversuchsfreien Methoden können Genexpressionsanalysen eine
Rolle spielen.

In dem „R2N“-Verbund gibt es weitere Arbeitsgruppen an der MHH, die dreidimensionale Zellkulturmodelle als Ersatz für Tierversuche erarbeiten: Professor Dr. Ulrich Martin und Dr. Ruth Olmer aus den Leibniz Forschungslaboratorien für Biotechnologie und Künstliche Organe (LEBAO) der Klinik für Herz-, Thorax-, Transplantationsund Gefäßchirurgie (HTTG) wollen an einem solchen Modell die Wirkung und Giftigkeit von Substanzen auf die Lunge testen. Professor Bleich studiert Darmkrankheiten und mögliche Gegenmittel an einem Darmmodell, Professorin Dr. Meike Stiesch aus der Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Biomedizinische Werkstoffkunde stellt Mundschleimhaut her, um Infektionen zu erforschen, die mit Implantaten zusammenhängen und Dr. Jörn Tongers aus der Klinik für Kardiologie und Angiologie plant, ein zellbasiertes Modell für Durchblutungsstörungen zu entwickeln, um das Milieu der Mangeldurchblutung von Gewebe wie dem Herzen oder Extremitäten besser zu verstehen und neue Therapien zu entwickeln.

Um den Einfluss einzelner Gene auf das Immunsystem zu untersuchen, arbeiten Professor Dr. Tim Sparwasser und Dr. Luciana Berod vom Institut für Infektionsimmunologie am TWINCORE an Zellen, die von Mäusen und Menschen stammen, die auch mit der CRISPR/Cas-Methode genetisch verändert werden können. Dr. Andres Hilfiker aus dem LEOBAO entwickelt einen In-vitro-Test, mit dem erkannt werden soll, welche Antigene auf dezellularisierten Schweineherzklappen beseitigt werden müssen, damit eine direkte Abstoßungsreaktion nach Implantation in einen Patienten ausbleibt. Um die Sicherheit der Gentherapie durch clevere Zellkulturmodelle und Computer- gestützte Netzwerkanalysen herauszufinden und bewerten zu können, fertigen Professor Dr. Dr. Axel Schambach und Dr. Michael Rothe aus dem Institut für Experimentelle Hämatologie neue Nachweis- und Vorhersage-Techniken für die Sicherheit von klinischen Gentherapie- Vektoren an.

Die Entwicklung dieser Verfahren läuft so schnell es geht. Damit sie einen Tierversuch ersetzen können, müssen sie von den Zulassungsbehörden anerkannt werden, was derzeit noch insgesamt mehrere Jahre dauern kann. Das Team von „R2N“ untersucht deswegen auch, wie die Anerkennungsverfahren schneller und besser gemacht werden können. bb

(Quelle: Pressestelle/MHH, 03.2017)